Alles, was wir über Megalodon wussten, stimmt nicht
Das Wasser unter deinem Fischerkahn brodelt, als käme etwas aus dem Wasser. Es kommt immer näher, das Wasser scheint zu kochen. Plötzlich siehst du gigantische Kiefer und blitzende Zähne. Sekunden später springt ein mächtiger Hai aus dem Wasser und zermalmt dein Boot mit einem Biss. Das war Megalodon, der größte Fisch, der je auf der Erde gelebt hat. Wir stellten uns Megalodon lange Zeit als eine größere Version des weißen Hais vor. Doch Wissenschaftler sind sich über seine Erscheinung uneins. Offensichtlich war unser Bild des riesigen Urzeithais falsch.
Bei der Größe sind die Forscher sich sicher: Er war etwa fünfzehn Meter lang. Das ist so groß wie ein Schulbus oder vergleichbar mit einem U-Bahn-Waggon und entspricht achteinhalb Durchschnittsmenschen übereinander. Vergleichen wir ihn mit dem modernen Hai, ist der Megalodon drei-mal so groß, grob geschätzt. Wir haben kein vollständiges Skelett eines Megalodon. Der Grund ist, dass er keine Knochen, sondern nur Knorpel hatte. Nach drei Komma sechs Millionen Jahren bleibt da nicht viel übrig. Alles, was überlebt hat, sind Zähne und ein paar Wirbelkörper. Dinosaurier hingegen sind schon vor etwa sechsundsechzig Millionen Jahren ausgestorben, doch ihre soliden Knochen sind noch wunderbar erhalten. Wir haben mehrere Skelette als Anschauungsmaterial.
Wissenschaftler haben die Größe des Megalodon aufgrund seiner Zähne und Kiefer kalkuliert. Das ist ein Zahn. Er ist etwa achtzehn Zentimeter lang. Größer als deine Handfläche. Und dreimal so groß wie ein Zahn eines modernen Hais. Der Kiefer eines Megalodon war zwei Meter breit und enthielt fünf Reihen scharfer Zähne. Das macht insgesamt zweihundert sechsundsiebzig rasiermesserscharfe Hauer. Ansonsten ist die Wirbelsäule erhalten geblieben. Sie besteht aus einhundertfünfzig Wirbelkörpern. Jeder ist fünfzehn Zentimeter breit. Sie enthalten so viel Kalzium, weil Megalodon so gerne kalte Frischmilch trank ... nein, Quatsch ... weil die Wirbel der enormen Masse des Riesenhais standhalten mussten. Auf Grundlage der Fossilien erstellten Forscher ein Modell und berechneten die ungefähren Ausmaße des Megalodon. Größer wird er wohl nicht gewesen sein. Das Problem ist die Atmung. Je größer ein Fisch ist, desto mehr Sauerstoff braucht er.
Das wiederum bedeutet, er braucht größere Kiemen. Dieses Organ filtert das Wasser und nimmt Sauerstoff auf. Wäre Megalodon größer gewesen, hätte ihm die Luft nicht gereicht. Daher geht man davon aus, dass fünfzehn Meter das Maximum waren. Im Schnitt waren sie wohl etwas kleiner. Puh! Unterhalten wir uns nun über das Gewicht. Ein Megalodon wog durchschnittlich dreißig bis fünfunddreißig Tonnen. Zum Vergleich: ein weißer Hai wiegt eine Tonne, das ist dreißig mal weniger. Selbst ein Schulbus ist mit seinen sieben Komma fünf Tonnen viermal leichter. Das Gewicht des Megalodon ließe sich mit einer leeren Boeing Sieben Drei Sieben vergleichen. Der moderne Blauwal schlägt Megalodon allerdings sowohl in Größe als auch beim Gewicht. Dreißig Meter gegen fünfzehn Meter. Fast doppelt so lang. Blauwale wiegen um die einhundertachtzig Tonnen. Das entspricht sechs Megalodons oder sechs Passagiermaschinen. Oder dreiunddreißig ausgewachsenen Elefanten. Diese Vergleiche sind doch toll, oder?
Und wie sah der Megalodon nun aus? Wissenschaftler zweifeln, dass er wie ein weißer Hai aussah. Der Megalodon gehört zu einer anderen Fischfamilie und sah vermutlich eher wie ein riesiger Sandtigerhai aus. Flache Nase, kleine Augen, die dorsale Flosse nach hinten versetzt. Der Sandtigerhai hat zwei gleich große, dorsale Flossen. Er war vermutlich hellbraun, mit einem weißen Bauch. Vielleicht hatte er rotbraune Flecken, wie ein Sandhai. Seit der ersten Fossilienfunde haben wir Megalodon immer für etwas Grausiges gehalten. Während der Renaissance fand man Zähne in Gestein. Zunächst hielt man diese Zähne für Zungen von Drachen oder Schlangen. So stellte man sich den Besitzer dieser Zähne damals vor. Eine riesige Schnauze mit einer gruseligen Nase und einem Haufen rasiermesserscharfer Zähne.
Es gibt auch Hinweise, dass Megalodon ein brutaler Jäger und König der Nahrungskette war. Sein erstes Werkzeug im Zweikampf war ein niederschmetternder Stoß. Der Megalodon schwamm relativ langsam. Er erreichte nur etwa achtzehn Kilometer pro Stunde. Zum Vergleich: der weiße Hai bringt es bei der Jagd auf fünfzig Kilometer pro Stunde, der schnellste Mensch schafft im Wasser nur zehn Kilometer pro Stunde. Na dann viel Glück. Aber der Megalodon war unglaublich schwer. Obwohl er langsam war, hatte sein Stoß eine unheimliche Wucht. Der Megalodon überraschte seine Beute. Er hatte nur eine Chance, sie zu erwischen. Verfehlte er sie, brauchte er zu lange für einen zweiten Angriff. Die Manövrierbarkeit des Megalodon wäre mit einem Lastwagen vergleichbar.
Doch wenn sein Stoß Erfolg hatte, war seine Beute außer Gefecht gesetzt. Dann zielte der Megalodon auf die empfindlichen Stellen, wie Flossen und Schwanz. Wissenschaftler entdeckten viele Überreste von Urzeitwalen mit Bissspuren von Megalodonzähnen. Scheinbar wusste der Riesenhai ganz genau, wo sich die lebenswichtigen Organe seiner Beute befanden. War die Beute erst zur Strecke gebracht, kamen auch die Zähne zum Einsatz. Verschiedenen Schätzungen zufolge hatte Megalodon eine Beißkraft von fast elf Tonnen. Stell dir das Gewicht von drei SUVs konzentriert auf die Spitze eines Zahns vor. Das ist neun-mal so stark, wie der Biss des größten weißen Hais und sechs-mal stärker als der Biss des Rekordhalters der Neuzeit — des Salzwasserkrokodils.
Sieh dir die Karte an, wo überall Überreste vom Megalodon gefunden wurden. Nord- und Südamerika, Europa, Asien, Australien. Er beherrschte alle Meere und fühlte sich überall auf dem Planeten wohl. Sogar in Süßwassersedimenten wurden Überreste von ihm gefunden. Vielleicht jagte er sogar in Flüssen. Andere Wissenschaftler hingegen behaupten, der Megalodon wäre gar kein Raubfisch gewesen. Und zwar aufgrund seiner Größe. Er konnte nicht schnell schwimmen, nicht mal kurze Sprints, wie der weiße Hai sie einlegt, waren drin. Wenn die Beute floh, versuchte er nicht mal, ihr nachzustellen.
Ein weiteres Problem ist das Skelett des Megalodon. Das Knorpelgewebe ist schwächer als Knochen. Also konnte auch die Muskulatur des Riesenhais nicht so mächtig und robust sein. Vielleicht war der Megalodon eher ein Aasfresser, der sich nie in einen Kampf stürzte. Das könnte ein Grund sein, warum er ausgestorben ist. Megalodon bevorzugte flaches, warmes Wasser mit Temperaturen um die zwölf Grad Celsius. Doch vor über drei Millionen Jahren wurde das Klima kälter. Der Megalodon büßte daraufhin viel Territorium und Nahrung ein. Die primitiven Wale, die seine bevorzugte Nahrung darstellten, verschwanden. Schnellere Raubfische schnappten sich die restlichen Leckerbissen. Der Megalodon verhungerte. Die Evolution brachte einen neuen Spieler aufs Feld — den Zahnwal, Vorfahre der modernen Killerwale. Sie lebten in Gruppen und hatten größere Gehirne als der Megalodon. Mit der Zeit stellten sie also ernste Konkurrenz dar.
Sie nutzen seine Trägheit aus. Eine Gruppe Killerwale konnte leicht gegen einen Riesenhai gewinnen. Viele Wissenschaftler glauben, dass das der Grund für das Verschwinden des größten Hais der Welt war. Allerdings gibt es auch Theorien, dass es Megalodon immer noch gibt und er in den dunklen Tiefen des Ozeans haust. Mehrere australische Fischer haben behauptet, einen Hai unglaublicher Größe gesehen zu haben. Aber es gibt keine Beweise. Fans der Theorie glauben, die Riesenhaie würden vor unseren Augen verborgen im Marianengraben leben. Das ist der tiefste Ort der Erde. Er ist tiefer, als würdest du den Mount Everest ins Wasser stecken. Und auch dort haben wir schon Zähne des Megalodon gefunden. Aber Forscher sagen, dass der Riesenhai aus mehren Gründen nicht im Marianengraben leben könnte. Einerseits ist es zu kalt.
Vermutlich war Megalodon ein wechselwarmer Fisch und auf die Wärme seiner Umgebung angewiesen. Doch im Marianengraben ist es nur lausige vier Grad Celsius warm. So weit in die Tiefe reicht kein Sonnenstrahl. Der zweite Grund ist der Druck. Pro zehn Meter Tiefe steigt er um eine Atmosphäre. Das bedeutet, in dreißig Meter Tiefe ist der Druck auf den Körper dreimal so groß wie an der Oberfläche. Die schwachen Muskeln und Knorpel des Megalodon könnten den Bedingungen tief im Marianengraben nicht standhalten.
Der entscheidende Punkt ist die Nahrung. Je weiter von der Oberfläche entfernt, desto weniger lebende Organismen gibt es. Megalodon ernährte sich einst von primitiven Walen, die drei bis sieben Meter lang waren. Im Marianengraben leben nur kleine Fische. Der Riesenhai würde nicht einen einzigen erwischen. Und entsprechend seiner Größe tat Megalodon nichts anderes als fressen und nach Nahrung suchen. Vergleichen wir das mit einem Menschen. Ein Durchschnittsmensch benötigt bei achtzig Kilogram Körpergewicht circa zweitausend Kilokalorien am Tag. Der Megalodon wog vierhundertsiebzig-mal so viel und benötigt dementsprechend mehr Kalorien. Selbst alle Bewohner des Marianengrabens zusammen würden einen Megalodon nur ein paar Tage lang ernähren. Diese Theorien sind also alle Humbug. Trotzdem kann es nicht schaden, auf der Hut zu sein. Verstehst du?